Mitbe-Wohnung - Liberté

Am in «Geschichten» von maik
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"Es ist da!", ruft Karl-Heinz durch den Flur an mir vorbei stürmend und reißt die Haustür auf. Der Postmann stößt erschreckt einen Schrei aus. "Zalando?", frage ich. "Nein nein.", sagt Karl-Heinz, nimmt das überdurchschnittlich große Paket freudestrahlend entgegen, schlägt dem verschreckten Postmann die Tür vor der Nase zu und legt das Paket ins Wohnzimmer. Er hat wohl wieder etwas im Internet bestellt. Karl-Heinz holt das Messer, was mir persönlich immer ein unangenehmes Gefühl gibt, und löst mit einer beängstigenden Genugtuung langsam das Klebeband mit der scharfen Klinge vom Paket. Ein wehleidiges „ritsch" ist zu hören. Neugierig schaue ich Karl-Heinz über die Schulter. Es ist ein Bausatz für eine Guillotine. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich kein bisschen schockiert bin, ja noch nicht einmal verwundert. "Das praktische an Online-Shops ist ja das Widerrufsrecht.", sagt Karl-Heinz, "Man kann einfach drei verschiedene Größen bestellen und die zwei unpassenden zurückschicken." "Ich wusste gar nicht, dass es bei Guillotinen verschiedene Größen gibt.", sage ich. "XXL für die etwas dickköpfigen…“ Ich lache dabei kurz, stelle dann aber fest, dass Karl-Heinz keine Miene verzieht, während er mit dem Aufbau des Tötungsinstruments beschäftigt ist. Im Moment ist er damit beschäftigt herauszufinden, wie er die Bedienungsanleitung halten muss, damit die Klinge letztlich sachgerecht von der Gravitation motiviert in die richtige Richtung fällt. "Hoffentlich ist die nicht auf Schwedisch", scherze ich. "Wenn hier nachher eine Schraube fehlt, wäre das fatal." ...Dafür, dass ich vor den Einzelteilen eines Hinrichtungsapparates stehe, mache ich eindeutig zu viele Witze. Noch eine Weile beobachte ich Karl-Heinz dabei, wie er mit einer kindlichen Euphorie einem kleinen Jungen gleich, der am Weihnachtsabend sein neues Lego-Set inspiziert, das Gerät geduldig zusammensetzt. Kurz überlege ich, ob ich ihn fragen soll, wozu er dieses Gerät denn brauchen könnte. Da bekomme ich Hunger und habe gleichzeitig das seltsame Gefühl, dass der Sinnabschnitt zu Ende geht. Also gehe ich in die Küche und esse ein Croissant mit ein wenig Sauce Béarnaise und gönne mir un vin de la Champagne…ou deux. Après quelques Minutes finde ich mich auf dem Tisch wieder folgende Worte rufend: „Liberté, Egalité, Fraternité!“