Swipe to freak out
„FUUUCK!“, schrie Timo plötzlich auf sein Smartphone starrend. Max sprang vom Sofa auf: „Was alter? Was ist los?“ „Ich hab zur falschen Seite gewischt!“, brüllte Timo. „Wovon redest’n du?“, brüllte Max zurück „Na bei Tinder, Mann!“, brüllte Timo wieder. „Was mach ich’n jetz??“ „Was geht’n alter!“, brüllte Max. „Warte, das kann man bestimmt rückgängig machen.“ Er schaute Timo über die Schulter und wollte ihm helfen, da klingelte es schon an der Haustür. „Oh Fuck, Mann“, flüsterte Timo. „Das isse! Was jetzt?“ Bebend vor Anspannung schritt Timo zur Haustür. „Wat? Das kann doch nicht sein. Wie…“, rief Max ihm verwirrt nach. Timo legte die Hand auf die Klinke, atmete einmal tief durch und öffnete die Tür.
„HIIIIIIIIIIIIII!“, rief das Mädchen breit grinsend, das dort im Hausflur stand. Sie hatte ein rosa Prinzessinenkleid an und blonde Zöpfe, die die Riesigen Ohrringe kaum zu verdecken imstande waren. Sie fiel Timo, sobald die Tür offen war, um den Hals. Timo konnte sich nicht bewegen. Mit der Kraft eines Bären hatte sie ihn umschlungen und hob ihn einige Zentimeter über dem Boden. Etwas knackte in seinem Brustkorb. Verzweifelt wandte er seinen Kopf nach hinten zu Max, deutete flehend auf das Brotmesser, das auf dem Tisch lag und dann auf seine Kehle. Doch den Gefallen tat Max ihm nicht. „Ich bin ja soooooo frooooh!“, rief das Mädchen und löste allmählich den festen Griff. „Hi. Na?“, begrüßte Timo das Mädchen atemlos. Er hatte es voll drauf mit den Frauen. Tinder hatte er nur wegen des Gruppenzwangs installiert. „Ich bin Timo.“ „Ich bin Daisyyyyy!“, rief das Mädchen grinsend. „Du bist mein allererster match!“ Dann drehte sie sich zu Max: „Uhh und du bist heute auch dabei?“ „Ähh, ne. Nene“, sagte Max wild mit dem Kopf schüttelnd. „Ich bin nur hier, weil Timo ´ne XBOX hat.“ „Ich freue mich ja so auf diesen Tag“, sagte Daisy unbehelligt wieder zu Timo. „Seit Jahren freue ich mich darauf. Auf dich.“ Sie schaute Timo tief in die Augen. In Großbuchstaben las er das Wort „IRRE“ auf ihrer Stirn. Das stehst du durch, dachte er sich. Du unterhältst dich ein wenig mit ihr und musst sie nur im Laufe des Tages wieder loswerden. „Hehe“, brachte er sehr eloquent heraus. „Na, was machen wir denn heute?“, fragte Daisy „Rudern wir über den See unter Weiden hindurch, oder gehen wir durch den Park spazieren oder ins Kino oder bleiben wir hier und…kochen?“ Beim letzten Wort zwinkerte sie. Dabei klatschte ein Teil ihrer Wimperntusche auf das Laminat. „Soo“, sagte Max und stand vom Sofa auf. „Ich lass euch zwei dann mal allein.“ Beim Vorbeigehen warf Timo ihm noch einen hilfesuchenden Blick zu, doch Max setzte sein „Da musst du jetzt allein durch, alter“ - Gesicht auf und ging zur Tür hinaus.
„Du hast ja so eine tolle Wohnung“, staunte Daisy, die es sich bereits auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. „Oh, und so eine schöne Tapete.“ Timo schaute prüfend zur Wand. Raufaser. Weiß. Er hatte seine Tapete offen gestanden noch nie bewusst wahrgenommen. „…Jaha.“ Wie charmant er doch war. „Möchtest du was trinken?“ „Rotwein wär‘ gaanz reizend.“, sagte Daisy und klimperte mit den Augen. Timo ging in die Küche und hoffte, dass auf wundersame Weise eine Flasche feinsten Weines dort erschiene. Doch dem war nicht so. Er konnte sich nicht erinnern, dass sich in dieser Wohnung überhaupt schonmal Wein befunden hat. Er selbst trank maximal Bier. Eigentlich wünschte er sich auch gerade lieber, dass etwas Hochprozentiges in seiner Küche erscheint. Mit einem Glas Leitungswasser kam er zurück ins Wohnzimmer und setzte sich neben Daisy. „Und was machst du soo? Mh“, fragte sie kichernd. „Äh ich ähh…studiere Archite…“ „Uhh wie aufregend!“, rief Daisy und rückte näher an Timo heran. „Ich arbeite in einem Hundesalon.“ „Na Mensch das ist ja… ähm magst du Musik?“, fragte Timo. „Heh heh heh“, lachte Daisy grunzend. „Du bist ja witzig! Wer mag denn keine Musik?“ Dabei streichelte sie ihm über den Rücken. Timo stand etwas ruckartig auf, ging zu seinem Rechner, startete das Musikprogramm und wählte die „Es-sind-Gäste-da-die-alles-hören-Playlist“ aus. Heutzutage gibt es ja für jeden Anlass eine passende Playlist. Diese beginnt mit Africa von Toto. Daisy summte mit und schwenkte ihre blonden Zöpfe im Takt umher. Vorsichtig setzte sich Timo wieder sehr aufrecht auf die Couch und legte die Hände auf seinen Schoß. Daisy packte seine linke. „Ich glaube, wir sind seelenverwandt“, sagte sie verschwörerisch im tief in die Augen starrend. Timo regte sich nicht. Du hast sowas doch schon tausendmal gemacht, dachte sich Timo, sie erfordert eben etwas mehr Feingefühl. Timo sprang auf. „Ich äh…ich hole mal was.“ Er geht in den Flur „Magst du Brettspiele?“, fragt er ins Wohnzimmer hinein. „Nur die für Erwachsene!“, ruft sie zurück. Oh Gott. Timo öffnete den Schrank, fing einen der Kartons auf, der ihm entgegenfiel und brachte ihn ins Wohnzimmer. Dort war nun alles voller brennender Kerzen. Große, kleine, dünne, dicke, runde, eckige, Duftkerzen… „Wo zur Hölle hast du…“ „Ich dachte ich mach‘ es mal etwas gemütlich.“, sagte Daisy. Timo hüpfte zwischen den Kerzen hindurch, öffnete den Karton und legte das Spielbrett schützend zwischen ihn und der Prinzessin.
Die beiden spielten eine Weile. Immer wieder versuchte sich Daisy um das Spielbrett herum zu schlängeln und Timos Intimsphäre zu durchbrechen. Dieser konnte aber immer wieder sehr taktvoll ausweichen. „Du bist mehr so der schüchterne was?“, fragte Daisy. Dabei versuchte sie, möglichst erotisch zu klingen, was nur bedingt gelang. „Nun“, antwortete Timo. Stimmt überhaupt nicht. Er war doch nicht schüchtern. Eher sehr charmant. Nur handelte es sich hier um einen Fall mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad. „Schau mal, was ich dabeihabe. Nur für den Fall“, sagte Daisy legte zwei goldene Ringe auf das Spielbrett und grinste noch viel breiter. Fassungslos starrte Timo auf die glänzenden Kleinode. „Na?“, fragte Daisy. „Magst du mich nicht was fragen?“ Timo sprang von der Couch auf. „Du bist ja völlig wahnsinnig!“ Daisy klimperte mit den Augen. „Und du bist wahnsinnig heiß.“ „Was stimmt mit dir eigentlich nicht?!“, brüllte Timo. Das Musikprogramm spielte „Hello“ von Adele. „Ich halte das nicht mehr aus. Ich…“ „Ja das Lied hört man wirklich oft“, erwiderte Daisy. „Nein. Dich mein’ ich!“, brüllte Timo weiter. „das wird mit uns nichts, sorry. Das geht nicht. Wir kennen uns seit einer halben Stunde und du…“ „Aber ich liebe dich doch!“, rief Daisy und kroch über das Spielbrett auf Timo zu. Der wich zurück und stolperte über eine leere Coladose, die Max auf dem Boden stehen gelassen hatte. Auf dem Boden liegend sah er die Rosa geschminkten Lippen von Daisy auf sich zukommen. Timo packte die Angst. Schnell kroch er rückwärts Richtung Wand. Dabei stieß er sieben Kerzen um.
„Das war echt ein bisschen bescheuert, so viele offene Feuer in einem geschlossen Raum brennen zu lassen. Romantik hin oder her“, sagte der Feuerwehrmann kopfschüttelnd zu Timo, der etwas benommen vor dem Wohnhaus stand und die anderen Feuerwehrleute dabei beobachtete, wie sie einen dicken Wasserstrahl durch sein geöffnetes Fenster leiteten. die Wohnung war komplett heruntergebrannt. Daisy stand neben Timo und sagte: „Schade um deine XBOX, aber das war doch ein aufregender Tag.“ Timo zog sein Smartphone aus der Tasche und löschte die App der Verdammnis.