Nachtstück
Mama hatte gesagt, sie solle niemanden hereinlassen. „Becki Schatz,“, hatte sie gesagt. „Ich werde um 20 Uhr zuhause sein. Lass niemanden herein. Ich habe einen Schlüssel.“ Das sollte nicht so schwierig werden. Sie saß auf ihrem Bett und las. Sie war nicht gern allein. Immer wenn sie allein war, was nicht oft vorkam, dann hörte sie immer von der Decke dieses Knacken und Knistern. Jedes kleine natürliche Geräusch nahm sie intensiver wahr als sonst. Das Lesen lenkte sie ein wenig ab.
Sie sah auf die Uhr. Die zeigte 19:41 an. Sie freute sich bereits auf das Abendessen, welches ihre Mutter wie immer mit äußerster Liebe und Hingabe zubereiten würde. Da knackte es wieder von der Decke. Alles ganz normal, Becki, sagte sie sich. Dann klang es, als tapste jemand auf dem Dach herum. Tapp tapp tapp tapp. Dann ein kurzes Kratzen und ein dumpfer Aufschlag und Rascheln in der Hecke im Garten. Sie sprang auf. Nur die Ruhe, das war ein Tier, Becki, dachte sie. Alles wird gut Becki. Sie klappte das Buch zu und legte es auf den Nachttisch, schritt langsam zum Fenster und sah hinaus. Es war stockfinster. Sie sah rein gar nichts bis auf die Straßenlaterne, die dort etwa fünfzig Meter im Dunklen stand. Nichts bewegte sich. Wenn sie jetzt hier jemand… Sie riss die Gardinen zu und trat vom Fenster zurück. Da war niemand Becki, alles ist gut. Sie ging zurück zum Bett und streckte ihre Hand nach dem Buch aus. Ihre Finger zitterten leicht. Beruhige dich, Becki…
Da wieder ein Knacken, gefolgt von einem Rascheln. Das bildest du dir jetzt ein, Becki. Bleib ganz… Hatte sich dort etwas im Flur bewegt? Sie fuhr herum und blickte zur geschlossenen Zimmertür. Sie atmete kaum um auch das kleinste Geräusch zu hören. Stille. Dann ein Rascheln. Es klang, als hätte jemand etwas im Flur bewegt. Ein seltsamer innerer Impuls veranlasste sie dazu zur Tür zu gehen. Vorsichtig und nahezu lautlos schob Becki sie auf. Ein leichtes Knarren war dennoch zu hören. Mit flacher Atmung und auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe herunter. Einige Stufen knarrten unfassbar laut. Da war wieder das Knacken auf dem Dach. Sie ging weiter. Als sie bei der Biegung der Treppe angekommen war, blieb sie stehen und starrte in den Flur. Becki, Becki, hier ist sicher nichts. Alles wird gut, Becki. Dort stand sie und bewegte sich nicht. Der Flur war dunkel. Sie konnte kaum etwas erkennen. Das Rascheln wurde lauter. Es knackte weiter. Ein Fiepen wurde immer lauter und lauter. Jemand schrie in der Ferne. Hauchte da etwas in ihren Nacken?
Sie sprang die Treppe hinunter, fiel krachend auf den Dielenboden im Flur, rappelte sich halb auf und stürzte in die Küche. ...Dort, hinter die Kochinsel... Sie kauerte sich hinter den Herd. Die Uhr am Herd zeigte 19:56 Uhr. Sie zitterte am ganzen Körper. Jetzt hatte sie wirklich Angst. ...Becki, bleib bei mir, Becki... Sie konnte sich nicht mehr beruhigen. Etwas trampelte auf der Treppe. Ein Kratzen am Fenster. Im Flur klirrte es. Die Küchentür schwang langsam auf. Sie wollte hier weg. Sie wollte, dass es schlagartig hell wurde und sie in den Armen ihrer Mutter lag. ...Bitte lass es aufhören, lass es…
Es klingelte. Dann war es still. Das war die Haustür. Sie lauschte einige Sekunden. Es war wieder ruhig geworden.„Becki Schatz, ich bin wieder da. Lässt du mich herein?“ Endlich. Wie erleichtert sie doch war, die Stimme ihrer Mutter zu hören. Es ist vorbei. Erstaunlich, was die Fantasie mit jemandem anstellen kann. Endlich ist es vorbei. Sie ging in den Flur, legte die Hand auf die Klinke, drückte sie herunter und öffnete die Tür einen Spalt.
Moment, Mami hat immer einen Schlüssel dabei.