Früher war alles früher
Da glibberten sie. Von oben nach unten. Wenn ich die Augen nicht bewegte. Falls doch, schnellten die kleinen durchsichtigen Würmchen und Bläschen wieder nach oben und begannen von neuem nach unten zu rutschen. Mouches volantes nennt man diese seltsamen kleinen Verklumpungen und Kondensate in der Glaskörperflüssigkeit des Auges. Im Prinzip tritt das bei jedem Menschen auf. Man sieht sie besonders gut, wenn man auf strukturarme Flächen wie den blauen Himmel schaut. Das tue ich sehr gerne und das tat ich in meiner frühen Kindheit auch sehr häufig in der Mittagszeit. Die Ursache ist folgende:
Ich gehöre zu der Gruppe Kinder, die im frühen Alter in den Kindergarten gesteckt wurden. Das hatte den einfachen Grund, dass meine Eltern zum einen arbeiten mussten, um mein gieriges Maul zu stopfen und zum anderen eventuell auch mal ihre Ruhe vor mir brauchten (ich redete damals noch sehr viel) und mich dort in der Kindertagesstätte in guter Gesellschaft zu Bewahren glaubten. So stand ich jeden Morgen sehr früh auf, um durch den alten Eisenbahntunnel, vorbei an dieser roten Mauer, den Berg hoch an der Hecke vorbei zum Kindergarten gebracht zu werden und mir die Legosteine wegnehmen zu lassen. Ich kann mich nur noch rudimentär an diese Zeit erinnern. Es gab dort viel zu spielen und ab und zu auch zu singen. „Mutter, Vater, Kind“ war immer hoch im Trend. Bemerkenswert ist, dass ich in der Retrospektive diese Zeit meines Lebens eher schlimm finde. Ich weiß nicht mehr genau, warum das so ist. Ich hoffe, dass dort keine Traumata tief in meinem Vorbewussten lagern und nur darauf warten, mein Leben zu zerstören. Ich erinnere mich an etwas cholerische Erzieherinnen, peinliche Erlebnisse in der Sauna (immerhin hatten wir eine Sauna im Kindergarten), gestörte Mitkinder, Kullererbsen, geteilte Badezimmer und diesen wundersamen Tee, den es auch hin und wieder in Jugendherbergen gibt.
Ein Thema, das mir jeden Tag besonders nahe ging, war der Mittagsschlaf. Jeden Tag wurden nach dem Mittagessen jede Menge unbequeme Pritschen aus dem Schrank geholt, im Spielzimmer verteilt und wir Kinder darauf deponiert. Und dann wurde geschlafen. Wir hatten mucksmäuschenstill zu sein. Die Erzieher, kurzerhand zum Wachposten umfunktioniert, marschierten die Bettreihen entlang und kontrollierten, ob alle Augen geschlossen waren. Wenn das nicht der Fall war, gab’s Ärger. Diese Systemkritiker konnten sie dort gar nicht gebrauchen. Ich wollte mich nicht widersetzen. Ich war auch erst drei. Ich wollte mich fügen. Ich versuchte es immer wieder und wieder, doch es ging einfach nicht. Es war mir nicht möglich zur Mittagszeit zu schlafen. Das tue ich auch heute nicht. Es bringt meinen Biorhythmus komplett durcheinander. Damals führte es dazu, dass ich jeden Tag eine Stunde, inmitten von Spielzeug und schnarchenden Kindern, waagerecht wartete, bis die Sperrstunde wieder aufgehoben wurde und die Wächter wieder zu Erzieherinnen wurden. Welch absurde Zeitverschwendung! Ich lag also da und wartete und wenn mal eine Patrouille vorbeikam, kniff ich die Augen so fest wie möglich zusammen und gab vor, tief zu schlafen. Die Obrigkeit schien hinreichend Terror verbreitet zu haben, sodass sie in der Mittagsschlafzeit wirklich ihre Ruhe hatten. Unsere Erzieherinnen drohten damit, dass wir bei der anderen, ganz fiesen Erzieherin Mittagsschlaf halten mussten, wenn wir nicht still waren und von dort war nie jemand zurück gekehrt.
Wie lang doch eine Stunde sein kann. Wenn ich das Glück hatte unter einem Fenster zu liegen, dann konnte ich wenigstens hinausschauen. Ich konnte von unten zwar nur den Himmel sehen, aber so habe ich die Schafe beobachtet, die sich als Wolken tarnten. Wie sie umher schwebten, ihre Form veränderten, und weiterflogen. Wenn keine Schafe da waren, starrte ich einfach ins tiefe Blau und ließ meine Fantasie spielen oder beobachtete die Mouches Volantes. Wahrscheinlich ist bereits dort die eine oder andere der Geschichten entstanden, die ich hier nun niederschreibe. Ich bin sehr froh, inzwischen alt genug zu sein, um zurückblicken zu können.