Die Vorlesung - Agonie

Am in «Gedanke des Tages» von maik
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Ich betrete den Hörsaal durch das massive Holzportal. Sofort übermannt mich ein Gefühl der Müdigkeit. Ich gehe an den nur vereinzelt und spärlich besetzten Reihen vorbei, in denen zwar vollständig körperlich, jedoch nur bedingt geistig anwesende Studenten mit halb offenen Augen sitzen. Ich lasse mich auf der linken Seite in der Nähe des großen Fensters auf einen Platz fallen.

Ein Mann kommt herein, stellt sich auf die Bühne und beginnt zu reden. Ich blicke mich um. Das scheint hier normal zu sein oder niemand hat ihn bemerkt. Ich klappe mein Tischchen hoch, packe umständlich meinen Kugelschreiber aus und lege diesen auf das Tischchen. Er rollt ob der Schräge sofort wieder herunter und landet irgendwo unter den vorderen Sitzreihen. Das war es dann wohl.

Der Mann vorn redet ungerührt weiter. Niemand beachtet ihn, bis auf Edison, den einen aufmerksamen Zuhörer, der immer ganz vorn sitzt um dem Mann, der dort referiert, bestätigend und ermutigend zuzunicken. Ich betrachte meine Fingernägel. Sie sind alle noch da. Dann krame ich in meinen Taschen. Dort finde ich eine 5-cent-Münze, die ich zwischen meinen Fingern drehe und damit herumspiele. Sie entgleitet meinen Fingern, fällt zu Boden und rollt ebenfalls unter die Bermuda-Reihe. Ich versuche dem Mann, der dort vor sich her redet, etwas Beachtung zu schenken.

Der hat wohl sonst niemanden, wenn der uns hier so viel erzählt. Ich muss mich stark anstrengen und zur Konzentration zwingen. Nach etwa zehn Sekunden schweift mein Blick unvermittelt aus dem Fenster. Draußen laufen Studierende älterer Semester vorbei, die kurz inne halten, erst mich, dann den Mann vorn und dann wieder mich nun mitleidig anblicken. Ich verziehe das Gesicht. Der Mann vorne redet weiter. Die Studenten gehen weiter. Ich bleibe sitzen.

Draußen fährt der Typ mit dem Rasenmäher vorbei, der dort jeden Tag mit dem Rasenmäher vorbei fährt. Wie schnell kann Gras eigentlich wachsen? Der Mann auf der Bühne räuspert sich und ich gebe ihm noch eine Chance. Leider nur für weitere zehn Sekunden. Dann lasse ich meinen Blick durch den Saal schweifen.Mir fallen architektonische Details auf, die mir vorher nicht bewusst waren. Langeweile schärft womöglich die Sinne. Könnte die Droge des 21. Jahrhunderts werden...

Der Mann führt seine Erklärungen aus und springt zurück zu Folie 27, dann wieder zur wahrscheinlich aktuellen Folie 87. Von 237. Ich bin sehr sehr müde. Wirklich müde. Die Präsentation verschwimmt. Lichter tanzen in meinem Blickfeld. Ich versuche mich wachzuhalten und halte mir mit den Fingern die Augen offen. Dabei erinnere ich mich an das neue Wort, dass ich neulich gelernt hatte: Energizer. Sportliche Betätigungen wären jetzt jedoch unangebracht, beschließe ich.

Ich schaue nach vorn. In den ersten Reihen hat jemand eines dieser sehr großen Smartphones. Er hält es vor sich um etwas zu schreiben und sich zu zerstreuen. Es muss etwa 300 Zoll groß sein. Ich kann die Folien kaum noch sehen, so groß ist das Teil. Absurderweise macht gerade dies die Folien nun für einen kurzen Moment interessant. Ich stecke mich etwas um an dem riesigen Gerät vorbei blicken zu können. Auf den Folien sind griechische und hiesige Buchstaben zu sehen, von denen einige mit Pfeilen verbunden sind. Der Mann schaltet eine Folie weiter. Dort sind ebenfalls Buchstaben zu sehen, von denen einige mit Pfeilen verbunden sind. Ein Anlass für mich, mich wieder mir selbst, dem Saal, den anderen Menschen im Saal, dem Campus draußen vor dem Saal, der Welt um den Campus herum, dem Universum und anderen Kleinigkeiten zuzuwenden. Im Grunde ist es auch alles so egal. Was wird es wohl heute zu essen geben? Ach es ist doch egal. Mein Kinn liegt heruntergeklappt auf dem Tischchen. Bestimmt kein toller Anblick, wie ich hier vor mich hin siech…aber ist ja alles so egal…ich ergebe mich der Müdigk...

Ich schrecke hoch. Etwas Verwirrung breitet sich in mir aus. Ein weiteres Mal blicke ich mich um. Neben mir haben sich Kommilitonen bereits Kopfhörer aufgesetzt und schauen Serienepisoden oder irgend einen sinnlosen Quatsch. Da gibt es ja bisweilen Überschneidungen. Kurz schaue ich Richtung Folien und muss etwas lachen. Der Mann vorne hat auch genug. Er bedankt sich wie üblich für die Aufmerksamkeit. Er muss auch etwas lachen. Dann geht er.

Sofort werden alle im Saal wach und hellhörig. Sie klopfen auf den Tischchen herum, ohne genau zu wissen warum, stehen dann auf und gehen dann angeregten Gesprächen nachgehend hinaus. Ich klappe mein Tischchen hoch und folge dem Strom nach draußen, während ich mir erneut die Frage stelle. Was zur Hölle mache ich hier?