Alles Gut

Am in «Gedanke des Tages» von maik
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Ich stehe am Bahnsteig 9. Der Zug fährt einige Minuten zu spät ein. Die Räder quietschen furchtbar laut. Das müssen sie, sonst hält der Zug nicht an. Ich steige ein, gehe die Treppe hinauf. Ein fast leerer Wagen. Ich suche mir trotzdem einen Zweierplatz. Später in Berlin werden noch mehr Fahrgäste kommen. Die können auf den Vierersitzen Platz nehmen. Meine Zweierbank nehme ich mit meiner Tasche, die ich neben mich quetsche, komplett ein. Mit dieser und meiner Jacke baue ich eine Barriere zum Gang. Nicht dass sich irgendjemand neben mich setzen würde. Die Leute versuchen ja im Allgemeinen so wenig wie möglich zu kommunizieren und mit so viel Privatsphäre wie möglich zu reisen. Ich möchte dennoch sicher gehen. Die Bahn setzt sich langsam in Bewegung. Der Lautsprecher ist auf „ohrenbetäubender Lärm“ gestellt. Der Zugbegleiter erklärt mir in fortissimo, wohin wir heute so fahren. Die Überraschung ist groß. Der Lautsprecher knackt. Dann herrscht Stille. Ich klappe mein Laptop auf um längst überfällige Dinge zu erledigen. Meine Knie berühren den Vordersitz.

Die erste Station ist erreicht. Ein älterer Herr kommt in mein Abteil, zieht ein klapperndes Rolledings hinter sich her und setzt sich auf den Viererplatz direkt neben mir. Sonst ist der Wagen komplett leer. Der Herr holt sein Telefon aus der Tasche, hält es sich ans Ohr und beginnt in einer für mich unverständlichen Sprache in sein Telefon zu brüllen. Ich tippe vor mich hin und versuche mich zu konzentrieren. Es gelingt mir nicht. Ich krame meine Kopfhörer aus der Tasche, verbringe fünf Minuten damit, die verdammten Dinger zu entknoten und stopfe sie mir anschließend in die Ohren. Das scheint der Herr zu merken und telefoniert noch lauter. In meinen Ohren beginnt es zu fiepen.

Die Bahn hält bei der nächsten Station. Weitere Leute steigen zu. Ich vergrabe meinen Kopf in der Laptoptastatur. Hoffentlich treffe ich niemanden, den ich kenne, oder noch schlimmer, der mich kennt. Bald bin ich in Berlin. Der Lautsprecher knackt erneut. Der Zugbegleiter erklärt uns, dass wir in Berlin heute die Haltestellen Ostbahnhof, Alexanderplatz, Friedrichsstraße, Hauptbahnhof, Zoologischer Garten, Charlottenburg und Wannsee anfahren. Ich kann es kaum fassen. Alle Fahrgäste sind völlig schockiert. Der Zugbegleiter wiederholt die Nachricht noch einmal. Es scheint ihm wichtig zu sein. Die Fahrgäste in meinem Abteil liegen sich in den Armen. Hauptbahnhof. Und das heute. Das gibt’s ja nicht.

Wir halten. Leute steigen aus. Leute steigen ein. Ich beobachte eine Mutter, die gerade mit einem Kinderwagen ausgestiegen ist. Sie schlenkert den Wagen beim Fahren hin und her um das Kind zu wiegen und rammt dabei den weiteren ausgestiegenen Leuten die Räder an die Fußgelenke. Dem Kind ist es egal. Es schläft tief und fest.

Wir erreichen Berlin. Der ältere Herr telefoniert schon wieder. Ich schiebe mir die Kopfhörer tiefer in die Ohren. Bisher habe ich zwei Worte getippt. Zwei Kinder beginnen im Wagen Fangen zu spielen. Zuerst rennen beide in die eine Richtung. Das eine Kind erwischt das andere. Dann rennt es in die entgegengesetzte Richtung, gefolgt vom anderen Kind. Meine eingeklemmten Knie tun weh.

Ein Mann steigt ein. Nein, Mann ist ein großes Wort. Sagen wir, so ein Typ steigt ein. Er ist bewaffnet mit einer Box und zwei hölzernen Stäbchen. Oh nein. Bitte nicht. Wohin er sich setzt ist wirklich egal. Er öffnet die Box. Sofort entströmt derselben ein penetranter Geruch, der sich sowohl auf die blau gepunkteten Stoffbezüge der Sitze als auch auf die Lungen der anderen Fahrgäste legt - meine eingeschlossen. In mir entsteht ein seltsam gemischtes Gefühl aus Ekel und Hunger. Hinter mir sitzt jemand, der mit sich selbst redet, vor mir sitzt jemand, der mit allen anderen Fahrgästen redet. Wer entwirft eigentlich diese scheußlichen Sitzbezüge? Ich wette, die werden derart designed, dass möglichst wenig Schmutz auf ihnen zu sehen ist.

Der Zug hält am Ziel. Zumindest an meinem Ziel. Ich soll doch bitte in Fahrtrichtung links aussteigen. Der Bahnsteig der dort auftaucht, verstärkt die Bitte. Ich drängle mich durch die Menschen, die jetzt viel lieber im Zug als davor wären und nicht länger mit der Erfüllung dieses Wunsches warten können. Ich stehe am Bahnsteig und schaue auf die Uhr. Etwas zu spät. Der Griff der schweren Tasche frisst sich in meine Finger. Jedenfalls bin ich angekommen. Ich hatte einen Sitzplatz. Ich musste nicht selbst fahren und für hundert Kilometer war ich nur etwas über eine Stunde unterwegs.

Eigentlich ist alles gut.